ERZÄHLUNGEN

Geschichten in allen Personen

Geschichten gibt es in allen Personen, zwischen allen Personen. Wir sehen die Welt und die Welt sieht uns. Davon handeln die Erzählungen in dieser Sammlung. Sie entstehen aus dem Spiel zwischen dem, wie man sich das Ganze vorgestellt hat, und dem, wie es am Ende ist; zwischen Ideal und Realität, Verfasser und Verfasstem, Darstellung und Dargestelltem. Denn so ist das Leben.

„Lasse schreit. Sein kleiner Körper biegt und verkrampft sich. Sie hat Mühe, ihn zu halten, schwitzt, beißt die Zähne zusammen, als Lasse mit dem Kopf gegen die Wand schlägt und noch lauter schreit.

 

Gunda bugsiert das Kind irgendwie in seinen roten Wollanzug und legt sich mit fahrigen Händen die Kindertrage um. Natürlich ist es eitel, sie mit der Trage. Aber ihr Ex soll was zu sehen haben, auch wenn ihr Kreuz in Stücke geht. Gunda, die Oma.“ (Revolution)

Leseprobe

REVOLUTION

Lasse schreit noch, als er in der Trage sitzt. Er beruhigt sich erst, als sie auf der Straße stehen. Wenn Mona vorbeikommt, weil sie etwas vergessen hat, wird Gunda sagen, wir gehen spazieren. Wenn Mona am Café Morgenrot vorbeikommt, ist Gunda ihren Job los, ihren Oma-Posten. Auch gut, dann wird sie eben zurückkehren zu Kaschierleim und Graupappe. Zwei Winterkurse, „Marmorieren“ und „Buchbinden für Anfänger“, wird sie an der VHS zu Hause in Bremen noch anbieten können.  Thomas meldete sich wie immer. „Hackefeld“ sagte er, „Hackefeld“ entgegnete sie.

 

Den Namen ablegen, ja, hätte sie. Hatte sie aber nicht.  „Gundi, wie komme ich zu der Ehre.“ „Du bist Großvater.“ „Weiß Mona … bist du bei ihr?“ Mona hatte sich also auch bei ihm nicht gemeldet. Die schnelle Frage und seine Überraschung, seine Verletztheit, ihr war das vertraut. Sie würde nicht wieder auflegen, wie geplant. „Ich kriege ein Kind“, hatte Mona gesagt, ohne Geplänkel, nach Monaten Funkstille, nach Jahren sich wiederholender Gespräche: Mama, brauchst du noch Geld, nein, Kind, mir geht es gut. Gunda hatte die Luft angehalten. Ein Kind. „Ich will’s nicht wegmachen“, hatte Mona geschluchzt. Immer wieder diesen Satz, „Ich will’s nicht wegmachen.“

Schließlich fragte Gunda nach dem Vater. „Scheiß auf den Vater.“ Mehr war nicht von ihr zu erfahren.Thomas erkundigte sich nach seiner Tochter, schließlich nach dem Geschlecht und Alter des Kindes, dann auch nach ihrem, Gundas, Befinden. Danke, gut, müde. Und selbst? Sie wusste, auch er war nach Berlin gezogen, aber dass er quasi um die Ecke wohnte, versetzte ihr einen Stich. Das war wohl ein Zeichen. Sie sagte, „Möchtest du Lasse mal sehen?“ Und biss sich auf die Zunge. „Ja, gerne.

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Leises Schnarchen dringt durch den Leinenstoff der Kopfstütze. Der vertraute Schmerz in den Schultern setzt ein, verdichtet sich in der Mitte der Wirbelsäule, strahlt aus dem Kreuzbein in die Hüften und zieht in die Knie. Ein paar Meter noch, dann sind sie auf der Kastanienallee. An der Ecke stehen ein paar Fahrradständer, einer davon ist frei. Gunda, die Oma, hockt sich auf die Stange und entlastet abwechselnd die Beine. Zwei Jungs mit Kappe laufen vorbei und starren sie an. Leises Schnarchen dringt durch den Leinenstoff der Kopfstütze. Der vertraute Schmerz in den Schultern setzt ein, verdichtet sich in der Mitte der Wirbelsäule, strahlt aus dem Kreuzbein in die Hüften und zieht in die Knie. Ein paar Meter noch, dann sind sie auf der Kastanienallee. An der Ecke stehen ein paar Fahrradständer, einer davon ist frei. Gunda, die Oma, hockt sich auf die Stange und entlastet abwechselnd die Beine. Zwei Jungs mit Kappe laufen vorbei und starren sie an.

Mona wusste nicht, wie sie das schaffen sollte, der neue Job in Berlin und ein Kind. Wie das damals für Gunda gewesen sei, sie sei so jung gewesen, wie sie sich hätte entscheiden können. Lasse wacht auf und fängt an zu wimmern. Er mag es nicht, wenn das Schaukeln aufhört. Gunda erhebt sich von der Fahrradstange. Die Schmerzen. Gleich, als erstes, einen Doppelten. Was Mona ihr nicht verzeihen würde, genauso wenig wie das Treffen mit Thomas.

Gunda, die junge Frau, hatte sich nicht entschieden. Sie hatte vier volle Monate verdrängt. Dann war es zu spät gewesen, auch wenn Thomas sie nach Holland gefahren hätte. Sie war gerade zwanzig, wohnte noch bei ihren Eltern und hatte keine Ahnung, was sie mit ihrem Abitur anfangen sollte. Frühling liegt in der Luft, die Cafés haben ihre Tische bereits auf der Straße aufgestellt. Dort sitzen junge Leute in lässiger Kleidung, die die Gesichter in die Sonne recken. Eigentlich passt ihre Tochter nicht hierher, mit ihren strengen Blusen und Hosenanzügen, ihrer Uniform, die sie abends gleich gegen bequeme Hausanzüge eintauscht. Ihr Vater und Thomas. Zur Brust nehmen wollte er sich diesen Schnauzbartträger, dann soffen sie bis in die Nacht. Sie waren bei der gleichen Galerie, der eine Bildhauer, der andere Maler. Gunda, das Mädchen, hatte Thomas auf einer Vernissage ihres Vaters kennengelernt. Thomas fing gerade an, mit seiner Kunst zu verdienen. Er malte fünfzackige Sterne, geborsten, blutrot triefend, an den Bildrand verbannt, überdimensional. Die Restbestände seiner APO-Vergangenheit. Kam in der Szene gut an. Ihr Vater, der sich selbst als pragmatischen Anarchisten bezeichnete, wusste junges Talent zu schätzen. Seine Tochter schwängern, das sei nun einmal pure Schaffenskraft, sagte er am Morgen nach der Unterredung mit Thomas und hielt sie dabei mit beiden Händen an den Schultern. Er strahlte. Lasse brüllt wieder. Den Schnuller spuckt er aus. Das Café Morgenrot ist nicht mehr weit. Gunda, die Oma, ignoriert die Schmerzen in ihren Knochen und wiegt die Hüften bei jedem Schritt. Lasse, hör auf! Wie soll das denn aussehen, dein Opa sieht dich zum ersten Mal und du schreist.

„Mona“, hatte sie ihr gesagt und selbst gehört, wie hohl es klang, „ich hatte nicht viel zu verlieren und habe so viel gewonnen.“ Ob sie vorbeikommen solle, sie könne am nächsten Morgen den Zug nehmen. „Ja“, sagte Mona, „das wäre nicht schlecht“, und legte auf. Lag wohl in der Familie.Lasse beruhigt sich nicht. Er braucht seine Flasche. Heißes Wasser zum Aufwärmen, am besten bestellt sie gleich eine große Schale. Gunda ist jetzt geübt darin, Fläschchen zu machen, sie hat sich daran gewöhnt, vor Müdigkeit gegen Türrahmen zu laufen. Wenn ihre Tochter sie gegen halb zwei Uhr in der Frühe ablöst, wenn Mona und sie sich beim Schein der Lichterkette im Flur kurz in die Augen sehen, ist sie dankbar, weil jeder dieser Momente einen anderen tilgt, der vor langer Zeit stattgefunden hat.

Da, auf den Bänken vor dem Café Morgenrot, sitzt er doch. Ein Thomas in Grau. Er hat immer noch dieses Lächeln im Gesicht. Die Narbe an seinem rechten Mundwinkel zieht sich leicht nach oben, vom Weinglas, oh je, das hat sie nicht gewollt, damals, oder? Thomas‘ Lippen sind entspannt, selbst die tiefe Falte vom Nasenwinkel abwärts verliert sich freundlich in seinen fülligen Wangen. Seine bevorzugte Frisur, das Haar einmal im Jahr kurz geschnitten und dann wachsen gelassen, wirkt modisch. Gunda schwitzt, Lasse brüllt. Thomas reißt die Augen auf, erhebt sich halb und starrt auf die Babytrage. „Ich hätte gerne eine Schale heißes Wasser“, keucht Gunda der Bedienung zu, die, ein Glück, gerade vorbeikommt, und lässt sich auf die Sitzbank neben Thomas fallen.

Schwierig wurde es, als Gundas Eltern das ganze Jahr auf Ibiza blieben und ihnen das Haus im Bremer Viertel überließen. Das Haus, in dem sie jetzt alleine lebte. Mona war schon zehn und abends immer was los, unten im Atelier. Es gab zwei Sofas, ein großes und ein kleines. Irgendwann saß Gunda, die Mama, immer auf dem kleinen, in der Hand ein Glas Wein, eine Flasche neben sich, und Thomas auf dem großen, in den Armen Bine oder Claudi oder wie sie alle hießen. War ja auch nicht schlimm, sie hatten das so vereinbart. Am Anfang winkte er sie noch dazu, später zog sie sich zurück, sobald das Gelächter lauter wurde. Sie ging nach oben, legte sich neben Mona in deren schmales Bett, schlang den Arm um ihre schlaftrunkene Tochter und weinte hochprozentige Tränen. Thomas, der Opa, breitet die Arme aus, haucht Gunda, der Oma, ein Bussi entgegen und versucht dann, ihr beim Lösen der Tragegurte zu helfen. Lasse jault. Er ist nassgeschwitzt und verkrampft sich sofort, als Gunda ihn schließlich im Arm hält. Sie springt auf und hält Lasse, die kleine Planke, über der Schulter, versucht, ihn zu beruhigen. Die Wickeltasche fällt von der Bank. Und alles fällt raus, das sterile Fläschchen, die Milch, Monas Milch… Kann sein, dass sie heult, Gunda spürt nur noch dieses wütende, zuckende Wesen auf der linken Seite, der Herzseite, und dieses Brüllen, bitte, kannst du bitte damit aufhören? Kind? Ich weiß nicht, wie lange ich dich noch halten kann und wie lange ich dich noch tragen kann und wie lange ich das noch aushalte, wo ich doch dich … doch dich dem Opa… Thomas…

Da nimmt ihr einer das Kind ab, und es ist Thomas. Er legt seine Hand auf Lasses Rücken und fängt an, zu brummen, läuft ein paar Schritte, die Straße hinunter, läuft einfach weg mit seinem, ihrem Enkel. Gunda starrt ihm hinterher, der breite Rücken, das winzige Kind, das so riesig war in ihrem Ohr und jetzt kleiner wird, winzig, das zusammensinkt über Thomas‘ Schulter, bis nur noch die rote Kapuze sichtbar ist hinter diesem Berg von Kerl. Gunda setzt sich. Vor ihr stehen, ordentlich aufgereiht, das Fläschchen und die Schale mit dem heißen Wasser. In der Schale steckt der Beutel mit Monas Milch. Mona beschriftet sie immer sorgfältig mit Datum und Uhrzeit, bevor sie abpumpt. Gunda starrt auf die Handschrift ihrer Tochter. Sie fühlt das Wort, wartet darauf, dass es ihr einfällt, konzentriert sich nur darauf. Akkurat. Eine akkurate Handschrift. Mona war fünfzehn, als sie ihre Eltern in ein Café einlud, um ihnen eine handgeschriebene Einverständniserklärung für den Besuch eines Internates vorzulegen.

Thomas und Gunda lebten schon getrennt. Sie bemerkten zu spät, wie Mona nach vorne an den Tresen lief und der Bedienung Geld in die Hand drückte. Als Thomas ihr den Betrag erstatten wollte, weigerte Mona sich, das Geld anzunehmen.Thomas kehrt zurück. Lasse wimmert, aber er schreit nicht mehr. Thomas setzt Lasse auf seinen Schoß, holt seinen Schlüsselbund hervor und lässt Lasse damit spielen. Sofort hat Lasse den Mund voller Schlüssel. „Hat wohl Hunger“, murmelt Thomas mit einem Blick auf die Flasche. Das Graphit an den Schlüsseln, das ist nicht gut, will Gunda sagen, aber sie fühlt nach der Temperatur der Milch und gießt sie in das Fläschchen. Und dann sagt sie, „Woher weißt du das?“ – „Was?“ – „Das alles hier.“

Gunda deutet mit dem Fläschchen auf die Wasserschale und den leeren Beutel. Dann nimmt sie Lasse aus Thomas‘ Armen und entfernt mit derselben Bewegung den Schlüssel aus seinem Mund, mit der sie ihm das Mundstück der Milchflasche anbietet. Lasse saugt gierig. Thomas schaut auf seine Fußspitzen. Seine Ohren leuchten zwischen dem grauen Haar hervor. „Ruben ist jetzt fast zwei“, sagt er schließlich, so steif, als ob er den Satz vorlesen würde. Lasse saugt, schluckt, nuckelt. Seine Augen fallen zu. Sein kleiner Körper liegt völlig entspannt in Gundas Armbeuge. Sie wartet, ob noch etwas kommt, hört der Stille zu, versteht. Dass die immer noch so jung sind, seine Mädchen. Und wie viel man auf einmal fühlen kann, erstaunlich. Woher wohl das Lächeln kommt, aus aufeinander gepressten Lippen, auf ihrem Gesicht. Lasse schläft langsam ein, und es ist still. Wie still das ist. Wie friedlich.