MEMOIR

Akshata

„Akshata“ ist mein bisher persönlichstes Projekt: Es geht um Glaube, Liebe, Krieg und Frieden in meinem Leben – und das meiner indischen Gastmutter, Amrita Gandhi. Unsere gemeinsame Erzählung belegt, dass Frauen am Ende immer mit den gleichen Dämonen zu kämpfen haben. Selbst indische Göttinnen.

„Der wahre Grund, warum ich hier bin, reicht tiefer. Ich bin ein Rationalismusflüchtling. Ich bin abgehauen von all den Graus und Blaus. Ich wollte an einen Ort voller Farbe und Emotion und Glaube, und ich wollte in das weiblichste Land, das ich mir denken konnte. Das war Indien.“

Leseprobe

Meine Indienreise ist fast vorbei. Ich sitze in einem Rattansessel an einem Strand in Goa und trinke Chai aus einem Wasserglas. Die Sonne küsst uns ein letztes Mal, aber die Bikinimädchen und Surferboys haben sich schon in ihre Strandhütten verkrochen, die Leinenladys und Westenträger in ihre Lodges. Jetzt liegen Kühe am Strand. Sie haben wenig mit der durchschnittlichen „Holsteiner Gefleckten“ gemeinsam. Indische Kühe besitzen Hörner, die den Mond tragen könnten, und ihr Fell ist golden.

Auf einmal bin ich froh, dass Raj hinter mir steht. Als ich vor ein paar Tagen in dem kleinen Hotel am Strand angekommen bin, hat sich Raj mit der ersten Chai vorgestellt, die er mir gebracht hat. Er scheint ein netter Kerl zu sein, eher gelangweilt als aggressiv. Die meisten Typen, die dich hier anmachen, verraten dir nicht ihre Namen, sie wollen zuerst deinen wissen.

Mir fällt etwas ein. Ich drehe mich um. „Raj bedeutet König, nicht wahr?“ Irgendwo habe ich das aufgeschnappt. Maharadscha, der große König. Raj guckt erstaunt und antwortet mir dann mit dem typischen indischen Kopfnicken, das genauso ein Kopfschütteln sein könnte und im allgemeinen „ja“ bedeutet, aber auch „vielleicht“ oder alles andere, das zu schwierig in Worte zu fassen ist.

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Ich habe aufgehört, ihn zum Sitzen zu bewegen. Das gibt nur Ärger mit seinem Chef. Ich sitze. Raj steht. Wir schauen beide auf den Widerschein der untergegangenen Sonne. Noch ein paar Momente Dämmerung, dann wird sich die Dunkelheit wie eine Decke über uns legen.

Nahe der Wasserlinie haben zwei Bullen ihre Hörner im Kampf verschränkt. Sie scheinen nur aus schwarzer Muskelmasse zu bestehen, unbewegt, die Köpfe tief gesenkt, Stirn an Stirn. Raj will wissen, was ich in Indien gemacht habe. Ich erzähle ihm, was ich jedem erzähle: „Ich habe hier Entwicklungshilfe gemacht. Ich wollte, dass Indien mich entwickelt.“ Der Papierkram, den ich erledigen musste, trug schließlich die Überschrift „development traineeship“, zu Deutsch, Entwicklungshilfepraktikum.

Der wahre Grund, warum ich hier bin, reicht noch tiefer. Ich bin ein Rationalismusflüchtling. Ich bin abgehauen von all den Graus und Blaus. Ich wollte an einen Ort voller Farbe und Emotion und Glaube, und ich wollte in das weiblichste Land, das ich mir denken konnte. Das war Indien. Ich wollte hier gesund werden. Auch als Frau.

 

 

Ein staubiges Violett liegt in der Luft und auf dem Wasser. Die zwei Bullen haben sich nicht bewegt. Sie stehen noch immer da, Schädel an Schädel, ein einziger Umriss zweier Tiere, die den Kampf nicht aufgeben wollen.
„Ich will hier weg,“ bricht Raj das Schweigen. „Ich will noch mein eigenes Ding machen. Ich bin jetzt achtundzwanzig und ich habe nur noch ein paar gute Jahre.“

Da wären wir, der Kellner und die Reisende, und suchen irgendwas, das definitiv nichts mit dem Traumstrand vor unserer Nase zu tun hat. Stattdessen sind wir Bruder und Schwester im Geiste: Die Zeit vergeht und man kommt nirgendwo an. Ich frage Raj, was er vorhat. Er zuckt mit den Achseln und deutet hinter sich. „Vielleicht ein eigenes Restaurant haben. Und eine Familie.“ Die ruhige Art, mit der er das sagt, ruft eine Erinnerung in mir hervor: Ich sitze in einem Transporter auf der A1 neben Emir, einem Typen aus Bosnien, der vor dem Krieg in den 90ern geflohen ist. Er hilft mir beim Umziehen – keine Ahnung, der wievielte Umzug es ist, einer von vielen in den letzten fünf Jahren. Emir fragt mich, was ich mit meinem Leben anfangen, ob ich Familie haben möchte. Ich zögere. Und er sagt mir einem fast schockierten Tonfall, „Familie ist das Wichtigste im Leben. Es gibt nichts Wichtigeres.“
Es ist jetzt dunkel. Ich kann die Bullen nicht mehr sehen. Sie haben sich wahrscheinlich einfach in der Dunkelheit aufgelöst, mitten im Versuch, den anderen zu besiegen. Ich will nicht über Kalle nachdenken. Kalle, der in Deutschland auf mich wartet. Kalle war immer die Zuflucht meines Herzens, und gleichzeitig war er die meiste Zeit nicht da. Out of reach.

 

 

Raj muss los, andere Gäste bedienen. Der Strand ist nicht mehr zu erkennen. Ich kann noch die Wellen hören und das Salz in der Luft schmecken. Das Kreuz neben dem Ausgang ist mit einer bunten Lichterkette geschmückt. Eine Weile starre ich auf die kleinen Lichter. Dann lasse ich den kalten Chai stehen und gehe ins Bett.